Berlin in der Zukunft – eine Geschichte

Teil 1

Ich sitze in einem kleinen Café in der Nähe der Hackeschen Höfe und schaue den vorbeifließenden Massen an Menschen zu. In meiner Hand ruht ein kleiner Kaffee. Der dritte für diesen Tag. Die Sonne scheint. Es ist Frühling. Ein Blick fängt mich, nur für einen Moment. Das Gesicht kommt mir bekannt vor. Automatisch merke ich, wie meine Google Sensoren auf meinen Gedanken reagiert haben und in meinem Kopf schwirrt das Bild zahlreicher Sozialer Netzwerke und verschiedener, treffender Profile hindurch. Irina Koroschenkow , Berlin, 25 Jahre. Es ist niemand, den ich wirklich kenne. Die neue Gesichtserkennung ist also noch nicht ganz ausgereift. Ich nehme einen Schluck vom Kaffee und beobachtete, wie sich hunderte verträumte Gesichter in die Magnetbahn drängen. Ende der Mittagspause, denke ich. Die Leute fahren zurück in ihre Büros zum Alex oder in den Hardenberg-Tower.

Das Surren einer Postdrohne stört meine Ruhe. „Jakob Hafke?“, fragt die elektronische Stimme von Lina, der künstlichen Intelligenz der Berliner Behörden. „Ja“, antworte ich und der kleine Greifarm holt, nach einem kurzen Scan meiner Identitätsdaten, aus den Tiefen seiner Tasche ein kleines Paket hervor. Endlich: das Buch, das ich so dringend haben wollte. Ich bedanke mich und packe es gleich aus, um den Duft der Druckertinte und des frisch gebundenen Papiers zu genießen.

Ich hatte lange kein Buch mehr in den Händen, denn normalerweise lasse ich mir meine Texte über meine Google Sensoren direkt ins Gehirn schleusen. Als ich das Buch jedoch zuklappe, bin ich erstaunt. Es ist nicht meine bestellte Ausgabe von Dantes Göttlicher Komödie, sondern ein kleineres Buch mit rotem Einband. Auf dem Cover steht in großen schwarzen Buchstaben: „1984 von George Orwell“.
Das Auge in der Mitte des Covers scheint mich direkt anzustarren. Ich drehe es, aber es gibt keine Inhaltsangabe. Im Umschlag erscheinen weder Infos zum Verlag noch zum Autor. Ich bin verwirrt. Die Postdrohne hat sich geirrt. So etwas passiert sonst nie.

Hektisch suche ich die Straße nach ihr ab und schrecke auf, als ich sie fünfzig Meter weiter und fünf Meter höher durch die Luft schweben sehe. „Ey! Halt!“, schreie ich und laufe zügig los. Menschen schreien auf, als ich sie im vorbeihetzen aus dem Unterhaltungschlaf wecke. Viele sind komplett erstaunt und noch völlig in ihren eben noch lebendigen Serien und Sendungen vertieft. Nur die wenigsten sind mit ihrem Geist anwesend. Hinter mir fällt eine Frau in Ohnmacht. Ich drehe mich sofort um, laufe aber weiter und renne in eine Gestalt im schwarzen Mantel, die gerade aus einer Nebenstraße gekommen ist.

Während sich sofort ein Notfall-Bot um die ohnmächtige Frau kümmert, entschuldige ich mich bei der Gestalt. Sie dreht sich um. Kühle blaue Augen schauen mich an. Das Gesicht regt sich nicht. Irina Koroschenkow schießt es mir durch den Kopf. Es sind diesmal nicht meine Google Sensoren. Noch während ich im Kopf versuche die aufgepoppten Profile zu ordnen, rennt sie davon. In Richtung der verschwindenden Postdrohne.

Sie ist groß und der schwarze Mantel ist gut zu erkennen. Ich folge ihr, denn sie folgt der Drohne ebenfalls. Diese kommt gerade aus dem Fenster eines Büros gesaust und zielt im Moment auf eine Person, die irgendwo im Gedränge vor der Marienkirche stehen muss. Irina gleitet durch die Massen wie ein Schatten. Ich dagegen arbeite mich mühsam unter zahlreichen Entschuldigungen vorwärts. Hauptsache sie oder die Drohne nicht aus den Augen verlieren. In meiner Eile bekomme ich den überwältigen Anblick, der sich um mich herum bietet, gar nicht mit.

Der Fernsehturm steht als letztes Relikt der DDR zusammen mit der winzig wirkenden Marienkirche eingeschlossen in einem Krater von gewaltigen Hochhäusern, deren Glas- und Stahlwände in der Mittagssonne glitzern. Zwischen ihnen kommen Magnetbahnen wie stählerne Schlangen zwischen den Häusern empor und ziehen ihre Wege auf den gewagt aussehenden Stahlträgerkonstruktionen, weit über den Köpfen der Passanten. Während neben mir eine Transportkapsel landet, die Menschen hinauf zur Magnetbahn bringt, fährt die Postdrohne herunter in die Masse zu ihrem nächsten Kunden.

Der schwarze Mantel hat seine Chance sofort erkannt, flitzt zwischen einer Gruppe Hoverboard-Skater hindurch auf einen Geschäftsmann zu, der jetzt eilig sein Paket abnimmt, und schnappt sich die Drohne. „Halt!“, höre ich sie mit deutlich russischem Akzent. „B850JF deaktivieren!“ Der Geschäftsmann schaut sie erstaunt an, während ich gerade fast von einem besonders wagemutigen Skater in die Seite gerammt werde. Ich höre ihn hinter mir fluchen, aber mich interessieren die Geschehnisse vor mir deutlich mehr.
Irina hat sich den Sack mit Paketen geschnappt und wühlt darin, während der Mann neben ihr sich laut darüber beschwert, dass er mit seiner Lieferung zurück ins Büro müsse. Die schlanke Frau beachtet ihn nicht. Sie scheint etwas zu suchen. Ich schaue auf das Buch in meinen Händen und dann zu ihr. „Hey! Hallo sie!“, rufe ich beim Näherkommen. Ich wedele mit dem kleinen roten Umschlag. Sie schaut auf und will danach greifen, aber ich ziehe es weg.

„Irina Koroschenkow?“, frage ich schnippisch. „ Ja, woher wissen Sie meinen… Oh.“ Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. „Jaja, die neue Gesichtserkennungs-Software ist …“, will ich fortfahren, aber stattdessen blitzen ihre Augen violett auf und sie greift in den Sack, um ein buchförmiges Paket herauszuholen.

„Dantes Göttliche Komödie!“, stelle ich erleichtert fest. Sie nickt. „Woher wussten Sie das?“, frage ich und gebe ihr dabei das kleine rote Buch mit dem Auge. Sie zuckt mit den Schultern, schnappt sich das Buch und verschwindet in einer Traube von Leuten, die auf eine Transportkapsel zuhalten. „Warten Sie!“, will ich sagen, aber sie hört mich nicht mehr und ich bleibe noch eine Weile am Ort des Geschehens und betrachte mein Buch.

Später stehe ich auf einem einsamen Bahnhof im Licht der Scheinwerfer und warte auf die Magnetbahn, um nach Hause zu fahren, höre ich eine Stimme hinter mir. Es ist russisch und meine Googlesensoren übersetzen direkt:  „Wenn die Chinesen uns das nächste Mal hacken, wird das nicht so glimpflich ausgehen, Yuri. Dieses Mal hatten wir Glück, dass die Deutschen anscheinend zu inkompetent sind, um…“
Ich drehe mich um. Es ist Irina. „Frau Koroschenkow. So spät immer noch unterwegs?“ Sie zischt etwas auf Russisch in ihren Kommunikationschip und antwortet: „So wie es aussieht, schon. Haben sie Freude an ihrem Buch?“ Mit einer Frage habe ich nicht gerechnet. „Dantes Göttliche Komödie ist ja nicht gerade eine häufige Lektüre. Vor allem nicht in gedruckter Ausgabe“, sagt sie. „Tatsächlich“, gebe ich zu, „allerdings auch George Orwell nicht.“

Ihr Blick wird violett. „Yuri?“, sagt sie in ihren Chip. „Yuri?“, frage ich. „Verdammt Yuri. Was ist los? Warum weiß er noch von dem Buch. Die Chinesen?“, quakt der Google Übersetzter in meinem Kopf. Sie schaut mich erstaunt an. Ihre Augen werden erneut violett, nein, eigentlich nur die Iris.

„Was ist hier los? Was ist mit den Chinesen?“, meine Neugier ist geweckt. Sie antwortet nicht, sondern quatscht hektisch und in Russisch in ihren Kommunikationschip. „ Yuri, er versteht uns. Er ist durch die Firewall gekommen. Vielleicht waren es gar nicht die Chinesen, sondern er.“  Ein Mann brummt etwas: „Was? Er kann uns verstehen? Yuri, das bedeutet wir müssen… Wir müssen ihn … Yuri?“
„Was müssen Sie?“ Eine furchtbare Ahnung überkommt mich. Ich höre Yuri einen kurzen Befehl in seinen Chip rufen. Der Blick von Irina wird stählern. Im nächsten Moment blicke ich in den Lauf einer 10mm Pistole. Mein Mund öffnet sich zum Schrei, aber bevor ein Ton meinen Mund verlassen kann, höre ich einen schallgedämpften Schuss. Meine Google Sensoren unterdrücken sofort jedes Schmerzgefühl in meinem Körper, trotzdem falle ich zu Boden. Ich sehe die Stahlträger des Bahnhofs über mir in verschwommenem Licht blasser werden. Mein Google Übersetzter ertönt. Es ist Yuri: „Gut gemacht. P13m. Wie es aussieht, haben die Chinesen ihre neue Entfesselungssoftware anstatt in ihren Agenten, in irgendeinen ahnungslosen Passanten geladen. Ich schicke dir eine Drohne, um das hier zu beseitigen.“

[J H ]


Teil 2

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