Dunkelheit – eine Geschichte

Der erste Teil der Geschichte erschien in der Ausgabe 03 der mona im Dezember 2015. Für alle, die diese Ausgabe nicht gekauft haben, stellen wir den ersten Teil als PDF-Datei zur Verfügung.


Teil 1

Download der PDF-Datei von Teil 1 der Geschichte.


Teil 2

Es ist kurz nach 20:00 Uhr. Ich habe mir einen Pfefferminztee gemacht und zappe im Schnelldurchlauf durch die Fernsehprogramme. Bei RTL läuft „DSDS“ und bei Super RTL gibt es „Vermisst“. Auf n-tv läuft eine Doku mit dem Titel „Ist das Morgen aus der Sicht von gestern wirklich Heute? – na Guten Morgen“. Verwirrt mache ich den Fernseher aus.
Jetzt merke ich, dass ich diese Sender vermisse, die mir Antworten auf all die vielen Fragen geben, die ich nicht gestellt habe, aber die mich trotzdem interessieren. Ja ich verpasse eine ganze Menge! Nun mache ich den Fernseher doch schnell wieder an. Logisch, dass ich jetzt „Vermisst“ gucke.

„Danke für Ihre Hilfe, da werde ich gleich hinfahren“, sagt die Frau im Fernseher auf Englisch, „so, also ich werde nach Shelby/Alabama fahren und mich dort nach John Brisson umhören. Thank you so much“, bedankte sie sich noch mal. Dann läuft die Werbung. Die leere Teetasse bringe ich in die Küche, schalte den Fernseher doch aus und schlafe sofort ein.

Ich wache auf, ziehe mich an, packe die Sachen, die ich für meinen Job brauche, und fahre mit dem Bus los. Inzwischen ist es 08:20 Uhr. Ich kaufe mir einen warmen Kakao.

08:30 Uhr und ich fange an zu arbeiten. Der Tag geht schnell vorüber: Zwischen 12:30 Uhr und 13:00 Uhr ist Mittagspause und um 15:30 Uhr ist Schluss. Nun fahre ich nach Hause.

Es ist 17:30 Uhr. Ich habe alles für die Arbeit morgen vorbereitet, also räume ich meine Spülmaschine ein und mache noch ein wenig sauber in meiner Zweizimmerwohnung. Es ist wieder kurz nach 20:00 Uhr abends, also ich wieder ein bisschen Fernsehen, mache das Licht und den Fernseher nach einer Zeit wieder aus und lege mich hin – wieder schlafe ich sofort ein.

Auch am nächsten Morgen wache ich gelangweilt auf und stelle fest, wie langweilig mein Tagesablauf doch eigentlich ist. Ich ziehe mich an, gehe aus dem Haus, in den Bus, den ich jedes Mal nehme und beobachte immer noch unmotiviert die nach rechts vorbeifliegenden Häuser. Es sieht aus, als ob alle Häuser von meinem Ziel, dem Arbeitsplatz, fliehen würden. Meine Haltestelle, ich steige aus.
Jetzt muss ich den Rest zu Fuß laufen und komme zu einer Kreuzung. Dabei komme ich an einer Litfaßsäule vorbei. Auf einem Plakat ist eine braungebrannte Blondine im Liegestuhl am Strand mit einem bunten Getränk in der Hand zu sehen. Darüber steht in dicken, freundlichen Buchstaben: „Dem Alltag entfliehen? – Wenden Sie sich an unsere Mitarbeiter“.

Ich gehe etwas langsamer, gedankenverloren weiter und komme an der darauffolgenden Kreuzung an. Noch halb träumend schaue ich, ob die Ampel grün zeigt: Ja, doch als ich gerade losgehen möchte, schaltet sie um. Es ist rot und genau die andere Richtung der Kreuzung zeigt grün. Ich folge mit den Augen den Weg der Straße, der mich zum Bahnhof führt. Ich habe irgendwie das Gefühl, dass der Bahnhof mich ruft. Ich folge dem Ruf.
Als ich auf der anderen Straßenseite bin, drehe ich mich nochmal um, die Ampel ist rot: Es gibt also kein Zurück mehr. Also gehe  ich zum Bahnhof, kaufe mir ein Ticket für den nächsten Zug und steige auch schon ein.

Es ist 11:35 Uhr. Der Zug hält an. Ich steige mit knurrendem Magen aus, hier ist alles anders. Die Straßen sind aus Pflastersteinen und die Häuser sind im Fachwerkstil gebaut. Ich sehe ein Geschäft und gehe rein. Die Regale sind alle voll, aber nicht so voll, dass sie einem beim Vorbeigehen entgegenfallen. Ich kaufe mir eine Packung Toastbrot, eine Flasche Wasser und eine Tüte und suche ich mir eine Bank.
An einer Straßenseite finde ich eine und setze mich hin. Neben mir sitzt ein Mann. Er hat kurze braune Haare und hat einen schicken Anzug. Außerdem hält er in der Hand ein halb aufgegessenes, belegtes Vollkornbrot.

Ich nehme mir meinen Toast und beiße rein. Nun schaue ich gerade aus, wobei mir ein Plakat an einer Straßenlaterne auffällt. Ich gehe hin, um es mir besser anschauen zu können. Das Plakat ist gewellt, wahrscheinlich weil es vor kurzer Zeit geregnet hat und auf ihm steht: „Die Flüchtlinge kommen. Helfen Sie ihnen und spenden Sie Nahrung, Decken oder Geld. Bringen Sie die Spenden bitte zu…“ – mitten im Satz höre ich auf zu lesen, da der Mann auf der Bank mich plötzlich fragt:
„Und? Werden Sie etwas spenden?“

„Ähm, ich kenne den Weg nicht, weil ich hier nicht wohne“, erwidere ich überrumpelt. Er sieht mir direkt in die Augen: „Das kann Sie ja nicht am Spenden hindern, oder?“
Jetzt hellt sich sein Gesicht regelrecht auf: „Ich könnte Ihnen den Weg zeigen“, fügt er noch hinzu.
Ich schaue auf ein Straßenschild, das mir sagt, dass ich in der Hollerstraße bin.
„Ja, gerne“, lächle ich freundlich zurück und auch er lächelt mich an.


Teil 3

Emma Weinbau und Herr Kühlmann, dessen Vorname Billy ist, gehen zu der Straße, die auf dem Plakat genannt war. Davor sind sie noch zu Billys Wohnung gegangen, um noch ein paar alte Sachen mitzunehmen. Emma wartete auf der Straße. Nachdem er wieder aus seiner Wohnung kam, waren seine Haare nicht mehr so strubblig  und er roch sehr maskulin nach einer Mischung aus Zitronengras, Sattelleder und Whiskey – er wollte ihr gefallen.
Auf dem Weg haben sie sich unterhalten. Emma erfuhr von seinem Namen und dass er seinen Job gekündigt hat. Billy erfuhr, dass sie Emma Weinbau heißt und wie sie hier gelandet ist.

Sie kommen an. Da steht ein Militärzelt, in das sie hineingehen. Hier ist eine Frau mit braunen Haaren und blauen Augen. „Hallo! Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragt sie und klang dabei sehr gestresst. „Wir haben ihr Plakat gelesen und wollten etwas spenden“, antwortet Billy.
„Können Sie schwimmen?“, fragt die überforderte Frau rüde.
„Ja!?“, antwortet Emma verunsichert.
„Gut, wir brauchen nämlich noch ein paar Freiwillige, die auf dem Boot helfen, Flüchtlinge aus dem Meer zu retten. Ein Flüchtlingsboot ist in Seenot geraten. Wir müssen schnell handeln!“, erzählt die Frau hektisch und mit einer ernsten Miene.
„Ähm, wir wollten eigentlich nur Spenden…“, antwortet Emma leise.
„Ach, keine Sorge, Sie sind ja nicht allein!“, beruhigt die Frau.
„Okay…“, sagt Emma, doch klingt nicht ganz überzeugt.
Die Frau dreht sich um. „Lorenzo! Wir haben Freiwillige!“, schreit sie zum anderen Ende des Zeltabschnitts. Erst jetzt sehen die beiden dort im Schatten die Person, mit der die Frau redet.
„Ich komme an schon“, antwortet die tiefe Stimme von Lorenzo. Die Frau nahm die nötigsten Personalien von Emma und Billy auf und Lorenzo kam ins Licht. Er kam mit zwei kompletten Sets wetterfester Kleidung, die aus zwei Regenjacken mit Hosen, Gummistiefel und zwei Mützen bestand. Emma zieht ihre High Heels aus und die Gummistiefel an. Über ihre Klamotten zieht sie die Gummikleidung. Billy macht das Gleiche und die beiden folgen Lorenzo zu einer Straße.

„Ihr steigt in das Auto, das gleich hier sein sollte, ein. Ron wird euch dann an den Steg fahren“, sagt er. Bevor Emma etwas sagen kann, dreht er sich um und geht. Es hält ein Auto und eine Tür geht auf. „Wer seid ihr?“, fragt der Fahrer des Autos.
„Sind Sie Ron?“, fragt Billy höflich, woraufhin Ron genervt sagt: „Ja und ihr?“
„Ähm… Lorenzo meinte, dass Sie uns zum Steg bringen“, antworte Emma mal wieder verunsichert und denkt sich: „Wäre ich bloß zu meinem Job gegangen, dann hätte ich keins dieser Probleme.“ Währenddessen denkt sich Billy: „Hätte ich sie bloß nicht gefragt, ob sie spenden will. Das gefällt mir ganz und gar nicht.“
„Steigt einfach ein“, meint Ron rau. Sie tun, was er sagt und steigen ein.

Es ist 14:27 Uhr. Als sie am Steg ankommen, regnet es. Hier ist schon ein kleines Fischerboot am Ablegen. Es will die Verunglückten retten. Billy und Emma eilen auf das Boot. Dort ist das reinste Chaos: Leute rennen hin und her. Das Boot fährt zügig in die entsprechende Richtung. Die Wellen lassen das Schiff hoch und runter schnellen, sodass sich nicht nur bei den Freiwilligen der Magen umdreht. Es dauert eine Dreiviertelstunde  bis sie das Flüchtlingsboot finden, das am Untergehen ist, jedoch noch gut zu sehen war.

Billy hatte sich inzwischen etwas an das Hoch und Runter auf dem Kutter gewöhnt. Als er bemerkt, dass in den Schaumkronen der Wellen gefühlte Hunderte von Menschen im Wasser schwammen. „Da!“, schreit er um alle zu alarmieren. Als das Rettungsschiff sich vorsichtig den Verunglückten nähert, versuchen die Flüchtlinge sofort auf das Schiff zu kommen.

Weitere Flüchtlinge paddeln hilflos im Wasser umher. Die Freiwilligen und die Besatzung ziehen so viele Flüchtlinge wie möglich auf das Schiff. Kinder sind erschöpft, Frauen zittern vor Angst und die Männer versuchen ihre Familien zusammenzuhalten.

Das Fischerboot wird hin und her geschaukelt  – vom Wetter und den Wellen. Die meisten Flüchtlinge sind jetzt auf dem Boot. Es ist kaum Platz zum Atmen, geschweige denn Bewegen.
Der Kapitän schreit: „Wir können keinen Einzigen mehr aufnehmen, wenn wir nicht selbst sinken wollen. Wir fahren sofort zurück!“ Eine starke Welle schlägt gegen das Fischerboot. Emma, die gemeinsam mit Billy weiterhin den Verunglückten hilft, wird durch diese Welle über Bord gezogen, kann sich aber gerade noch an der Reling festhalten. Es versuchen noch im Wasser schwimmende Personen sich an ihr hochzuziehen.
„Hilfe!“, schreit sie, als sie spürt, wie sie den Halt verliert: „Helft mir!“  – Billy will sie ins Schiff zurückholen, als sie genau in diesem Moment den Halt verliert und ins Meer fällt. Billy schmeißt ihr einen Rettungsring zu, doch bekommt jemand anderes den Ring vor ihr zu packen. Das Schiff nimmt Fahrt auf.

„Emma! Versuch dich irgendwo festzuhalten!“, ruft Billy Emma zu und nach vorn zum Kapitän: „Halt! Es ist jemand über Bord gegangen!“ – Der Kapitän antwortet: „Wir müssen sofort zurück!“ Verzweifelt dreht sich Billy wieder Emma zu. Sie ist bereits hinter den Wellen verschwunden.  „Kommt zurück!“, schreit sie entkräftet. Aber das Schiff wendet nicht.

„Emma!“,  hört sie Billy rufen, aber kann nicht antworten, weil sie etwas unter die Wasseroberfläche zieht. Sie kriegt keine Luft. Sie kann nicht nach oben schwimmen und bei jedem Versuch zu atmen, schluckt sie Salzwasser. Billy ist unter Schock. Er hat das alles mit angesehen.

Zwei Wochen später. Es ist Nacht. Billy wird wach. Er starrt in die Dunkelheit.
„Wo bin ich?“, fragt er laut und erkennt langsam die Umgebung. Er ist im Krankenhaus. Billy steht auf, nach diesem lebensechten Traum kann er ganz sicher nicht so leicht wieder einschlafen.
Auf dem Nachttisch liegt das Bild von Herzlinde und Ismamell und unter dem Bett liegen die High Heels von Emma. Er geht durch die Gänge des Krankenhauses. Eine Krankenschwester läuft ihm entgegen.
„Oh, Herr Kühlmann! Wie geht es Ihnen?“ –  Sie ist eindeutig die netteste der Krankenschwestern. „Nur wieder der Albtraum.“ – „Wollen Sie wirklich schon entlassen werden? Haben Sie Bekannte, zu denen Sie gehen können?“, fragt die nette Krankenschwester. Er schüttelt den Kopf: „Nein, das Schicksal der Flüchtlinge lässt mich nicht in Ruhe, ich muss raus und helfen“.
„Okay, legen Sie sich wieder hin und versuchen Sie zu schlafen. Wir reden morgen weiter. Gute Nacht oder haben Sie noch einen Wunsch?“, entgegnet die Schwester. „Nein, gute Nacht“, lächelt er freundlich und geht zurück in sein Zimmer.
„Warum musste sie sterben? Hätte nicht jemand anderes an ihrer Stelle sein können?“, denkt er  und starrt in Richtung Himmel. Doch es kommt keine Antwort. Billy stellt Emmas Schuhe auf den Nachttisch betrachtet sie. Er legt sich hin, aber schlafen ist unmöglich. Stattdessen starrt er die Decke an.

[ D D ]